Es gibt Menschen, die sind sterbenskrank, aber kerngesund. Und es gibt solche, die sind gesund und lebendig— äußerlich, körperlich —, innerlich aber sind sie abgestorben, wie tot.
Deutlich wurde mir das anhand von zwei Begegnungen, die mich tief bewegt haben:
Da war diese alte Dame, an deren Krankenbett ich einige Male zu Besuch sein konnte. Sie lag schon mehrere Jahre im Bett; der Krebs hatte ihr nach und nach das äußere Leben genommen. Wenn man aber an ihr Bett kam, meistens im Kreise der Familie, dann war das so, als ob man aus der Kälte in die warme Wohnstube tritt, oder so, wie wenn man auf einer Winterwanderung ganz verfroren an ein knisterndes Lagerfeuer kommt. Sie lag da und strahlte Licht und Herzenswärme aus. An ihrer Dankbarkeit und Zufriedenheit konnte man sich erwärmen, ja regelrecht entzünden. Jedes Mal bin ich dann wieder gesegnet, ja fröhlich erhellt meiner Wege gegangen. Als sie dann starb und ich sie bestatten durfte, war die Trauer groß, obwohl man ihr die Erlösung aus körperlichem Leiden gönnte — sie hatte trotz Krankheit so viel Erlösendes in das Leben ihrer Mitmenschen gebracht.
Ganz anders war das bei einem jungen Mann, den ich ebenfalls anlässlich einer Bestattung kennenlernte. Er hatte seinen Weg gemacht, schon nach kurzer Zeit viel Geld verdient und blätterte im Gespräch — sehr klischeehaft, wie in der Werbung — all sein Haben auf: Mein Haus, mein Auto, mein Boot … Die Oberfläche war ordentlich poliert. Vor der Trauerfeier war mir schon sein glänzendes Cabrio aufgefallen, das ich zunächst mit einem neidischen Seitenblick zur Kenntnis nahm. Der Neid verging mir allerdings, weil es ihm kaum gelang, seine Unzufriedenheit und seine rastlose Suche zu verbergen. Den Weg ans Krankenbett seines Angehörigen hatte er jedenfalls nicht gefunden und war nun mit doch beträchtlichen Resten eines schlechten Gewissens angereist. Mit meinen ungeschickten Einwurf, dass man ja nicht von dem lebe, was man alles so hat, sondern dass die Beziehungen doch unser Leben reich machen würden, hatte ich dann aber unser Gespräch ungewollt zum Ende gebracht. Er erhob sich wortlos und fegte dunkel verhangen davon.
Mir wurde deutlich, dass die Orientierung am äußeren Schein, das innere Licht eines Menschen verblassen lässt. Es bleibt dann bei aller scheinbaren Vitalität, ein taubes Gefühl übrig: da ist soviel gestorben, da ist jemand sterbenskrank im Inneren. Vielleicht ist das überhaupt das größte Problem heutzutage, dass wir ständig Innen und Außen vertauschen, Wesentliches und Unwesentliches, Oberfläche und Tiefe.
Ich glaube, dass Gotteserfahrung aus einem Kontrast entsteht. Weil wir aber diesen Kontrast kaum noch erleben, fällt es uns heute schwer, Gott zu erfahren.
In früheren Zeiten war eine Selbstauffassung sehr verbreitet, nämlich: ich bin nur einer unter Vielen. Mein Leben ist nicht besonders einzigartig, ich bin nur ein Teil meiner Familie, meiner Sippe, meines Dorfes; und ich bin in vielerlei Zusammenhängen durchaus überflüssig, eigentlich unwichtig. „ich“ wurde früher noch kleingeschrieben, denn der Einzelne empfand sich dem Schicksal gegenüber wehrlos, er fühlte sich ausgeliefert. Eine Krankheit oder materielle Not konnte alles ins Wanken bringen, das Sterben wurde als dauerhafte Bedrohung erlebt. Überhaupt war so ein Menschenleben noch nicht in die Watte des Wohlstands gepackt, wie es heute doch für viele der Fall ist.
Dazu kam das Grundempfinden, das sich etwa im Psalm ausdrückt: „Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?“ (Ps 8,4.5) Was ist der Mensch eigentlich wert im Angesicht der Herrlichkeit Gottes? Wie klein ist der Mensch letztlich, wie unbedeutend im Vergleich zur Größe der Natur. Noch Blaise Pascal erschauerte vor der Unendlichkeit der Schöpfung, der Unendlichkeit im Großen: Sterne, Galaxien, Universen und der Unendlichkeit im Kleinen: Zellen, Atome, Strings und Quarks.
Diesem Bewusstsein der Bedeutungslosigkeit des Menschen und durchaus auch der Gleichgültigkeit Gottes gegenüber stellt sich dann aber in der jüdisch-christlichen Überlieferung eine andere Gotteserfahrung entgegen. Das kleine Volk Israel, vollkommen unbedeutend im Vergleich zu den Global-player-Völkern: Ägypten, Assyrien oder Babylonien ist von Gott erwählt worden; ja es war und ist Gottes geliebtes Gegenüber. Und der einzelne Mensch, das Menschenkind, vom Schicksal gebeutelt, aussätzig und ausgesetzt, arm und gebrochen wird durch den Menschensohn Jesus gesehen, angesprochen und zurechtgebracht. Was für eine Aufwertung des einzelnen Menschen? Der große Gott steigt in die menschliche Bedeutungslosigkeit hinab!
Wir haben heute diesen Kontrast aufgelöst. Die Einzigartigkeit des Menschen und seine Bedeutung werden nicht mehr in Zweifel gezogen, sie sind selbstverständlich. Das Ich wird großgeschrieben und wird nicht mehr durch die Größe und Unfassbarkeit der Natur und auch nicht durch das göttliche Geheimnis in Frage gestellt. Das aber macht den Glauben so schwer. Denn die Liebe Gottes versteht man eben nur aus dem Kontrast zur Feindseligkeit des Lebens. Die Gnade, von Gott gesehen und angesprochen zu sein, im Kontrast zum blinden Schicksal, das einen verstummen lässt. Die Freude, ihm alles zu bedeuten, vor dem Hintergrund der Unendlichkeit, ja der Bedeutungslosigkeit von uns Menschenkindern.
Das ist schon komisch, das Leben. Man lebt da einfach so drauf los. Jeder macht es, ohne richtig Ahnung zu haben, wie es wirklich geht. Es gibt einfach keine Betriebsanleitung dafür. Ich frage mich, wäre es nicht viel besser, wenn man eine Anleitung hätte. So ein Handbuch, das man aufschlagen kann, wenn es wieder mal nicht rund läuft. Ich meine, jedes Gerät, das man kauft, hat doch im Beipack eine Beschreibung — Waschmaschine, Motorsäge oder Rasierapparat. Selbst bei Ikeamöbeln gibt es für Snöre oder Knut klare Anweisungen zum Aufbau, mit einfachen Bildern, wo der Imbus anzusetzen ist. In so einer Anleitung ist eben alles erklärt und oft gibt es sogar eine Liste am Ende, was bei Fehlern oder Störungen zu tun ist. Besonders die ältere Generation liest erst mal die Anleitung und nimmt dann die Sache in Gebrauch. Man schaltet so ein Gerät nicht einfach an und sieht dann mal, was passiert, sondern man macht sich doch erst mal kundig, wie das alles funktioniert.
Bei uns Menschen ist das nicht so, wenn wir zur Welt kommen, dann ist da meistens alles dabei, nur keine Betriebsanleitung. Als Elternteil habe ich mir das mehr als einmal gewünscht. Warum schreit das Bündel denn jetzt, was ist denn nur los? Hast du den Burschen wieder schief gewickelt, eine Kolik oder einfach nur Säuglingsbosheit? Und wenn die Menschenkinder dann älter werden, besonders in der Zeit, in der wir Eltern schwierig sind, dann würde man schon manchmal gern wissen, was man dann machen soll. Wie soll man mit einem pubertierenden Kaktus kommunizieren? Im Handbuch, welche Seite war das nochmal?
Im eigenen Leben – ist das letztlich nicht anders. Es gibt viele Situationen, in denen man gerne mal nachschlagen würde. Gibt es vielleicht einen Masterplan, eine Karte, auf der etwas Hilfreiches draufsteht. Ein Bauplan, für Dich selbst: altes Haus! Warum musst du dich ständig mit der gleichen Sache auseinandersetzen? Warum reagierst du so? Es könnte doch auch ganz anders gehen? Warum trittst du dir und anderen immer auf die gleichen Zehen? Learning by doing ist ja ganz schön, aber es wäre einfach hilfreich zu wissen, wie das Leben prinzipiell gemacht ist und worauf es hinausläuft. Wie läuft es richtig rund?
Die junge Generation sieht das alles meiner Erfahrung nach etwas anders; vielleicht ist das auch ihr Vorrecht der Unerfahrenheit. Die stecken den Stecker einfach in die Steckdose und dann geht’s los: plug and play. Also, Computer hochfahren und darauf vertrauen, es wird schon gehen; wieder auf Neudeutsch: trial and error. Einfach ausprobieren. Wenn es hier nicht langgeht, dann eben irgendwo anders. Man gewinnt dann Erfahrung besonders im Umgang mit Widerständen. Eine Betriebsanleitung gibt es für die eben nicht, man braucht sie auch nicht.
Davon schneide ich mir gerne eine Scheibe ab; leider hat es bei mir noch nie richtig geklappt mit dem plug and play – zumindest nicht an technischen Geräten. Deshalb heißt es für mich immer nur noch plug and pray. Leg los und bete. Das ist wohl besser als jede Betriebsanleitung fürs Leben.
Grüße!
„Ich möchte nicht weiter ein Teil des Problems, sondern der Lösung sein!“ So formuliert ein Freund sein Lebensmotto. Ich finde diesen Satz wunderbar, weil hier jemand in einfachen, nicht gedrechselten Worten ausdrückt, was ihn als Christ bewegt. Eine gute Perspektive und Fragerichtung: Wie kann ich – ganz prinzipiell - eine Hilfe sein, dass Lösungen gefunden werden? Können die Leute in mir einen unkomplizierten Menschen finden, der nicht alles problematisiert, verkompliziert, der nicht jedes Wort auf die Goldwaage legt, überall einen Haken findet und ein ängstliches: „Aber“…; einen Menschen, der sich und anderen nicht im Weg steht, weil er an sich selbst eben nicht ängstlich oder egoistisch festhalten muss? Finden andere in mir einen gelösten Menschen oder zumindest einen, der immer wieder versucht sich loszulassen, um für andere da zu sein? Mein Freund ist einer, in dessen Nähe man aufatmen kann, so dass andere immer wieder sagen: „Gut, dass du kommst!“ Sie wissen, allein dass er da ist, ist schon eine Hilfe.
Diese Lebenshaltung geht auf einen gemeinsamen Freund zurück, der sein Lebensmotto größer und anspruchsvoller formuliert hat. Es ist Jesus selbst: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Mk 10,45). Ich verstehe das Leben und Sterben Jesu, seine Auferstehung – im Großen – als Erlösung der Welt von Destruktivität und dem Verhängnis des Bösen und – im Kleinen – als Erlösung für uns, damit wir gelöst und vor allem lösungsorientiert leben können. Es reicht das Motto zu wiederholen: „Ich möchte nicht weiter ein Teil des Problems, sondern der Lösung sein!“
So hieß eine Fernsehsendung kurz vor Ostern. Und so kann man auch Ostern überschreiben. Mit Jesus, dem Auferstandenen, beginnt das große Schlüpfen. Er ist der Erste, der sich heraus gearbeitet hat – aus der leblosen Hülle irdischen Lebens; wie ein Küken aus dem Ei. Und ihm nach reifen wir in unserer Lebenszeit, wachsen wir der Ewigkeit entgegen. Das ist der österliche Glaube, von dem her unser Leben froh werden kann.
Leider wird es immer schwerer in diesem fröhlichen Vertrauen zu leben. Wir umgeben uns nämlich weitgehend mit toten Dingen, mit Maschinen, Computern und Bildschirmen, die wir auf „on“ oder „off“ stellen können und die wir wegwerfen, wenn sie kaputt sind. Man könnte denken: Vielleicht ist das unser Leben. Es wächst nicht heran, es reift nicht, sondern es zerbricht, es brennt aus, es verliert seinen Kontakt – kaputt, Elektro-Müll, Schrott.
In der Natur ist das ganz anders und in der Landwirtschaft auch. Nochmal, da ist das Leben ein Werden und am Ende ein großes Schlüpfen. Ein praktischer, vielleicht widerständiger Ostergedanke: Jedes Kind bzw. Jugendlicher sollte ein Praktikum beim Landwirt machen und einmal miterleben, wie ein Kälbchen geboren wird oder wie Küken schlüpfen. Noch anfechtbarer: Jeder Erwachsene sollte einmal einen Menschen ins Sterben begleiten und einmal das entspannte Lächeln, den Glanz auf dem Gesicht des Verstorbenen wahrnehmen können, wenn es durchgestanden ist, wenn das Ewige sich herausgearbeitet hat. Vielleicht wird dann die Osterbotschaft neu verständlich, das große Schlüpfen.
Die Welt wartet nicht auf Dich und nicht auf mich! ich glaube, in dieser Sache sollte man klarsehen, spätestens, wenn man über dreißig, vierzig ist. Man erlebt dann mit ziemlicher Sicherheit, was es heißt zu scheitern: an einer Aufgabe, vielleicht in einer Beziehung oder in Konkurrenz mit anderen beruflichen Mitbewerbern. Du hoffst etwa auf eine andere, bessere Arbeitsstelle und wirfst deinen Hut in den Ring, aber ein anderer macht das Rennen. Du hast gute Ideen, dein Projekt hat Hand und Fuß, ist innovativ und zukunftsweisend, aber das will niemand hören, sehen oder wissen. Man entscheidet sich für einen anderen. Du bist halt auch nur einer oder eine unter Vielen. Jedenfalls wartet die Welt nicht auf dich, ob sie dich nun braucht oder nicht.
Aber, Gott wartet auf dich und er braucht dich und deine Ideen; er braucht dich, mit Gewinnen und Verlusten, mit Gelingen und Scheitern. Gott wartet auf dich, wie der Vater, der seinen Sohn an die Welt verloren hat (Lk 15). Er wartet mit offenen Armen und der Sehnsucht auf deine Heimkehrfreude; er wartet mit einem gedeckten Tisch, ja einem Festmahl, dir zu Ehren. Es ist legitim, sich dieses Bild Jesu intensiv auszumalen, es zu personalisieren, es auf sich anzuwenden. Gott wartet auf Dich, das ist seine Haltung zu Dir und Mir. Und jede Hinwendung zu Gott, jedes kleine Gebet nimmt dieses Warten, die Gegen-„wart“ Gottes für sich in Anspruch.
Ich meine, die Sommerzeit ist für die Hinwendung zur Gegenwart wie geschaffen. Manchmal werden die Tage jetzt doch etwas weniger wahnsinnig, man nimmt etwas Tempo raus, weil man auch mal im Café sitzen will oder am Abend in froher Runde am Grill. Es mag gerade in der Urlaubzeit dann auch Raum für die Stille sein, in der Natur, auf Reisen in einer kühlen Kirche. Gott wartet auf Dich! In diesen besonderen Momenten, aber auch, wenn Du zurückkommst in die Niederungen des Alltags.
Mit diesem Bewusstsein jedenfalls lässt sich anders leben, mit realistischem Blick auf die Welt, auch wenn die nicht auf dich wartet!
Eine gesegnete Zeit Euch
LG Thorsten Waap